Life Letter No. 19
Das soll es gewesen sein?
„Das soll es gewesen sein?“, fragte die Mutter entrüstet ihre Tochter. Sie wusste, dass sie sterben würde, und wenige Tage danach war es soweit. Jahre später erzählte mir die Tochter davon. Dieser Satz hatte sich ihr eingeprägt. Was ist nicht alles darin enthalten: ein Bedauern, auch ein Vorwurf, vor allem aber Enttäuschung. Das soll es gewesen sein?
Wozu das Ganze? Ist der tiefere Sinn, der Zweck meines Lebens wie hinter einem Vorhang verborgen? Oft ist da die Hoffnung, wie bei der Mutter, da kommt noch was, wenn ich nur lange genug warte. Ich hab doch immer alles gemacht, für die Kinder, den Ehemann, die ganze Familie, hab Kindergeburtstage organisiert, Weihnachten zelebriert, mein Leben lang funktioniert. Die vielen Jahre gingen vorbei wie ein Luftzug - und jetzt soll ich sterben? Sollte da nicht noch was kommen, noch in dieser Welt? Eine Belohnung, eine Anerkennung? Was für einen Sinn hätte die ganze Plackerei denn sonst? So viele Fragen in dieser einen Frage: Das soll es gewesen sein?
Wenn ich mir erst kurz vor meinem Tod enttäuscht die Frage stelle, ob das nun alles war, dann kann ich nur noch „Ja“ sagen. Ja, leider, das war’s. Mehr wird nicht kommen. Wenn ich aber 40 oder 50 oder 60 bin und mir die Frage stelle, ob das nicht ein wenig wenig ist, was das Leben für mich bereit hält, dann kann ich noch „Nein“ sagen. Nein, so nicht, so will ich nicht leben. Ich habe die Wahl. Ich kann eine andere Richtung einschlagen, kann neu fühlen und denken, kann auf die Suche nach einem Leben gehen, das mich satt macht.
Diese Abzweigung muss ich aber erst mal sehen. Und ein Gefühl dafür entwickeln, was sich hinter dem Vorhang meines gewohnten Alltags abspielt. Eine Familienaufstellung hilft, diesen Vorhang kurz zu lüften, gleichsam backstage dem eigenen Leben zuzuschauen und zu begreifen, dass, wenn eines Tages, am Ende, mein Leben mehr gewesen sein soll als eine Enttäuschung, dass ich vorher etwas dafür getan haben muss. Von selbst öffnet sich der Vorhang nicht.