Life Letter No. 2

Was ist gefährlicher?

Ordnung?

Oder Unordnung?

Ordnung ist das halbe Leben, haben nicht nur meine Eltern zu mir gesagt. Und sie ließen keinen Zweifel daran, dass Ordnung für sie die bessere Hälfte, dass Ordnung eigentlich alles war. Jahre später las ich einen Satz des französischen Denkers Paul Valéry, den meine Eltern nicht verstanden hätten: „Zwei Dinge bedrohen unaufhörlich die Welt;  die Ordnung und die Unordnung.“

Ordnung im Endstadium kann zur völligen Erstarrung führen. Alles ist an seinem Platz, nichts und keiner bewegt sich mehr. Das bedeutet letztlich die totale Kontrolle. Der Vorteil: Wer die Kontrolle hat, erlebt keine bösen Überraschungen. Nur, wer keine bösen Überraschungen erlebt, erlebt auch keine schönen. Der erlebt gar nichts mehr. Der ist praktisch tot, lange bevor er gestorben ist.

Die Gefahr in der Unordnung ist, dass ich mich nicht mehr finde. Wenn alles sich verändert, Gewissheiten nur einen Nachmittag gelten, weil morgen schon alles neu und fremd ist, dann ist auf nichts mehr Verlass und ich habe Angst, dass ich meinen Halt, meinen Platz, meine Orientierung in der Welt verliere.

Wir brauchen beides im Leben, Ordnung und Unordnung, Halt und Aufbruch. Unsere Aufgabe ist es, die Gefahren auszuhalten und uns souverän für das eine oder andere zu entscheiden. Wir brauchen beides, wir brauchen den Wechsel, brauchen sowohl Stabilität als auch Kreativität, wenn wir im Fluss des Lebens so mitschwimmen wollen, dass wir unsere Reise genießen können.

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