Life Letter No. 24
Ich und ein Panther?
Ich hatte kürzlich Geburtstag und bekam von einer Freundin eine Geburtstagskarte. Wenn ich eine Frau von 95 Jahren „Freundin“ nennen darf. Sie meinte selbst, dass das wohl eine merkwürdige Geburtstagskarte ist, ein Panther, war sich aber sicher: „Du wirst es verstehen.“
Sofort kommt mir das berühmte Gedicht von Rainer Maria Rilke über den gefangenen und ausgestellten Panther im Pariser Jardin des Plantes in den Sinn:
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
Fast gleichzeitig mit dem Gedicht fällt mir das Wort „Seele“ ein. Die Seele war für mich nie ein Problem, ich habe einfach nicht groß darüber nachgedacht. Erst seit ich in diesem Jahr an der Sommerakademie des Nelles-Instituts zum Thema Seele teilgenommen habe, ist die Seele für mich etwas, das ich verstehen möchte.
Früher dachte ich, die Seele hat etwas mit Gott zu tun. Oder mit Frauen, die eine „schöne Seele“ haben, die, glaubt man der romantischen Literatur, noch begehrenswerter sein soll als die Frau selbst. Dagegen sagte der Psychologe Wilfried Nelles in seinem Vortrag: „Die Seele ist nichts Schönes.“ Für den Philosophen Wolfgang Giegerich ist die Seele ein „Gegenwille.“ Sie ist damit gewissermaßen das, was der Panther in seinem Käfig umkreist. Ein großer Wille, der jedoch betäubt in der Mitte steht. Der Käfig ist für den Panther nicht auszuhalten, deshalb umkreist er unablässig diese Mitte, seine Seele, seinen Gegenwillen.
Die Seele, das ist schlicht das, was uns am Laufen hält. Was uns bewegt. Was uns aufbegehren lässt gegen den Käfig, in dem wir leben. Wir bauen uns Käfige aus Beruf, Familie, Immobilien, Schönheitsidealen, Statussymbolen, Süchten, Gewohnheiten. Aber immer bleibt etwas übrig, ein Rest, der nicht aufgehen will in unserem durchkalkulierten Leben. Eine Sehnsucht nach Freiheit, nach dem Ich, das ich wirklich bin. Diese Mitte umkreisen wir. Diese Mitte ist unsere Seele, die uns nicht zur Ruhe kommen, die uns nicht bequem und selbstgenügsam werden lässt. Die uns ins Offene lockt. Ins Leben.
Wie gut, dass ich Geburtstag hatte. Und Karten bekomme von Menschen, die mich kennen und lieben. Und mir meine Seele zumuten.